Andrea Geier
6 min readAug 12, 2020

Gefährdete Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit? Über die Phantomdebatte der sogenannten Cancel Culture

Wenn Kritik “Zensur” genannt wird, bin ich mittlerweile zwar nicht mehr überrascht, denn das geschieht seit einigen Jahren in Debatten über die sogenannte ‘Political Correctness’, seit 2020 nun zu ‘Cancel Culture’ dramatisiert. In schlechter Erinnerung ist mir die Auseinandersetzung über Eugen Gomringers Gedicht “avenidas” geblieben. Dass dieses Beispiel mittlerweile in der Debatte einen kanonischen Status hat, ist schlicht absurd: Eine Hochschule macht von ihrem Hausrecht Gebrauch. Wer das Gedicht lesen und rezitieren will, kann das tun. Die Debatte hat es bekannt gemacht. Seither hat sich diese Argumentation allerdings unzählige Male wiederholt und zu einem festen Schema entwickelt: Ausgehend von völlig unterschiedlichen Fällen wird ein allgemeines Bedrohungsszenario behauptet, und einzelne Menschen oder sogar Organisationen wie etwa der PEN inszenieren sich auf dieser Basis öffentlichkeitswirksam als Verteidiger*innen von Meinungs- und Kunstfreiheit. Das schadet der Debattenkultur insgesamt. Besonders abenteuerlich ist der (bislang) jüngste Fall im Literaturbetrieb: Dass der Verlag S.Fischer die Zusammenarbeit mit Monika Maron beendet, wird doch phantastischerweise von manchen Leuten unter “Cancel Culture” verbucht. Diese Redeweise ist nun so verbreitet, dass wirklich alle darauf eingehen müssen, um zu sagen, dass das falsch ist. Entsprechend findet es sich auch in meinem Interview im “Büchermarkt” des Deutschlandfunks mit Miriam Zeh.
Mittlerweile geht es zunehmend neben Meinungs- und Kunstfreiheit auch um eine angebliche Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit durch “Cancel Culture” & “Political Correctness”. Ich darf immer mal wieder sagen, was daran alles falsch ist.
Hier findet ihr meine Beiträge im Deutschlandfunk Kultur, bei 54Books und in Interviews; außerdem einen Artikel und Podcast zusammen mit Paula-Irene Villa Braslavsky. Und auch ein sarkastisches Zensur-Bullshitbingo: Hier entlang, bitte! Reihenfolge: Neueste Beiträge zuerst.

„‘Wir müssen anerkennen, dass es Verschiedenheit in der Gesellschaft gibt’:
Die Genderforscherin Andrea Geier kritisiert eine Gleichsetzung von linker und rechter Identitätspolitik. Dadurch, sowie durch Begriffe wie ‘Cancel Culture’, ‘kommen Positionen in den Raum, die so tun, als ob Rassismus und Rassismuskritik irgendwie dasselbe seien’, sagte Geier im Dlf.”
Im Interview im Deutschlandfunk (28.2.2021) mit Stephanie Rohde ging es ausgehend von einem Interview mit Wolfgang Thierse um ein ganzes Bündel von Themen, die er angesprochen hatte: Emanzipatorische Identitätspolitik, Rassismuskritik, Cancel Culture”, angebliche Sprechverbote, geschlechtergerechte Sprache und Blackfacing. Das Interview zum Nachhören ist oben verlinkt, man kann es außerdem nachlesen. Dazu ein kurzer Bericht und ein paar Kacheln auf Insta:

Immer wieder “Cancel Culture”: Ich durfte im Gespräch mit
@BeateMfr für die KulturWelt in Bayern 2 (ab Min. 11 zum Nachhören) meine 5 Cent beisteuern & habe gesagt, was man einfach immer wieder sagen muss: Es gibt keine “Kultur” des “Cancelns”. Hier zum Nachlesen: Wann wird aus Einzelfällen eine “Kultur”? Gibt es eine neue Verbotskultur an deutschen Universitäten, die bestimmte Meinungen aussperrt, wie es das “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” behauptet? Darüber wird wieder erbittert gestritten. Von: Beate Meierfrankenfeld.

Einzelfälle, die meist völlig unterschiedlich gelagert sind, “werden unter
ein griffiges Schlagwort subsummiert, Verschiedenes also vereindeutigt und zu einer vermeintlichen Zensurkultur hochgejazzt. Dabei sei es bemerkenswert, dass ausgerechnet jene, die an prominentester
Stelle ganz viel sagen dürften, den Diskurs um die ‘Cancel Culture’ anführten, meint Geier.” Ausschnitt aus: Das Feld des Sagbaren: Cancel Culture — Kampfbegriff oder echte Bedrohung? Tagesspiegel, von Christoph David Piorkowski.

Cancel Culture & kein Ende? ZDF zoomIN-Reporterin Maral Bazargani hat mit mehreren Personen über das Phänomen aka Phantom der Debattenkultur gesprochen, eine davon war ich.

Trennung von Monika Maron ist kein Fall von Cancel Culture. Interview im Büchermarkt Deutschlandfunk mit Miriam Zeh.

Debatte über „Cancel Culture“. Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen (Deutschlandfunk Kultur)
Angesichts der Energie und Ausdauer, mit der gegen alle Evidenz behauptet wird, die Meinungs- und Kunstfreiheit sei von ‘Political Correctness’ und angeblich im politischen Spektrum links angesiedelter ‘Cancel Culture’ (und nicht etwa von rechter Ideologie) bedroht, muss man fragen, warum die Vorstellung, Sprechräume seien enger geworden, überhaupt solche Resonanz erhält. Eine Antwort lautet: Es gibt Veränderungen in der Debattenkultur, und die Rede von Zensur und Sprechverboten ist eine abwehrende Reaktion darauf. Mein zentrales Stichwort lautet : Verantwortung übernehmen! Denn es geht darum, sich besser zu erklären.

Fantasierte Maulkörbe — Über den Offenen Brief des PEN zu Lisa Eckhart
Lisa Eckhart ist umstritten, und über ihre Comedy wird unter anderem im Internet debattiert. Was aber hat das zu tun mit der Absage ihrer Lesung in Hamburg, die als Cancel Culture-Fall breit skandalisiert wurde? Nichts. Gerade deshalb ist es aufschlussreich, sich anzusehen, wer im Moment gegen wen die Kunst- und Meinungsfreiheit verteidigt. Unter anderem veröffentlichte der PEN einen Offenen Brief:
Der Offene Brief des PEN hat mehr Gewicht als nur ein weiterer ärgerlicher Zeitungsartikel, in dem von „Blockwartmentalität“ schwadroniert wird. Und es ist offensichtlich, dass es sich bei der verzerrenden Darstellung nicht um ein Versehen handelt. Denn sie steht im Einklang mit einer Positionierung, die Regula Venske als Präsidentin des PEN bereits in der Debatte um das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer im Jahr 2017 bezogen hatte. https://www.54books.de/fantasierte-maulkoerbe-ueber-den-offenen-brief-des-pen/

Ist die Kunstfreiheit gefährdet? Über die Debatte um #metoo im Kulturbetrieb spreche ich am Beispiel von Woody Allen, Roman Polanski und Siegfried Mauser im Podcast “Die bessere Debatte” mit Paula-Irene Villa Braslavsky
https://detektor.fm/kultur/piqd-thema-bonus-die-bessere-debatte-kunstfreiheit

Das ist Zensur! Eine Anleitung
Verärgert. Gelangweilt. Fassungslos. So fühle ich mich in den letzten Jahren oft, wenn ich Artikel lese oder Interviews höre, in denen ich ohne begründeten Anlass vor angeblicher Zensur, dem Ende der Meinungsfreiheit, durch Political Correctness entfesselten “Moralismus” bis hin zur dräuenden Diktatur (hier beliebte Vergleiche wie etwa die Reichsschrifttumskammer einsetzen) gewarnt werde. Es ist immer gleich das ganz große Geschütz. Lieblingsbeispiele für das Geraune vom Untergang der Freiheit und angeblicher Zensur sind Vorschläge und Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache, Kritik an rassistischem Sprachgebrauch (“Verbotskultur”) –, #metoo und die Kritik an sexualisierter Gewalt (“darf man überhaupt noch flirten?”). Und nun, man staunt, steht der jüngste Offene Brief von Autor*innen an den Rowohlt Verlag in dieser Reihe…. https://www.54books.de/das-ist-zensur-eine-anleitung/

Andrea Geier & Paula-Irene Villa: Wer hat Angst vorm Zuhören? Republik, 17.8.2019: Linke Identitätspolitik ist, wieder einmal, das Feindbild der Stunde. Der Vorwurf: Sie hintertreibe den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch die Kritik übersieht das Entscheidende.

Ergänzungen: Die Debatte ging und geht weiter. Hier ein paar Beiträge zu Wissenschaftsfreiheit, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit:

Cancel Culture. In: Die Ratgeber. HR, 3.5.2023, Interview

„Wissenschaftsfreiheit heißt nicht, ohne Kritik und Widerspruch zu bleiben.“ Interview mit Andrea Geier von Sina Metz, 14.7.2022

Aushandeln! Die Universität Hamburg hat Anfang Februar einen Kodex Wissenschaftsfreiheit veröffentlicht. Braucht es so etwas wirklich? Darüber diskutiert Peter-André Alt mit Andrea Geier. In: DUZ Magazin 4/2022

Interview mit Andrea Geier im Deutschlandfunk Kultur zum Fall Kathleen Stock (5.11.2021)

“Cancel Culture”: Kampfbegriff, Problem, Phantasma? Versuch einer wissenschaftlichen Einordnung

Political correctness: Wer wird hier gecancelt? Die Presse vom 03.07.2021.

„Werden hier Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit verwechselt?”
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Andrea Geier von Fabienne Wehrle in “Die Debatte”.

In der Debatte um Lindemann ging es immer wieder um die Kunstfreiheit. Dabei wurde u.a. versucht, das ‘lyrische Ich’ gegen Kritik an der Veröffentlichung eines Vergewaltigungs-Gedichts in Stellung zu bringen. Deshalb habe ich in der FAZ vom 7.6.2023 erklärt, was der Begriff ‘lyrisches Ich’ leistet und vor allem, was nicht. “Mund offen, Augen zu”.

Beim Thema Sensitivity Reading wird häufig gefragt: Ist das ein Problem für die Kunstfreiheit? Das haben wir hier auch diskutiert: Sensible Lektüre — wie korrekt sollen Bücher sein? Gespräch in SRW2 Forum, Lukas Meyer-Blankenburg diskutiert mit Prof. Dr. Andrea Geier, Hadija Haruna-Oelker und Rainer Moritz.

Wenn es Kommentarspalten gibt, nicht lesen”. Gespräch mit Isolde Sellin für wissenschaftskommunikation.de: “Geschlechterforscher*innen sind häufig mit Vorurteilen, Aggression und Hass konfrontiert. Wie in der Wissenschaftskommunikation mit diesen und weiteren Herausforderungen umgegangen werden kann, erklärt Andrea Geier, Professorin für germanistische Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender Studies.”

Wissenschaftsfreiheit in Gefahr? Campus und Karriere vom 10.2. Es diskutieren: Claudia Kemfert, Wirtschaftswissenschaftlerin, Andrea Geier, Literaturwissenschaftlerin, Sandra Kostner; Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, Enno Aufderheide, Generalsekretär der Humboldt Stiftung. Am Mikrofon: Manfred Götzke. “In Campus & Karriere gehen wir diesen Fragen nach: Wie stark wirken Anfeindungen und Bedrohungen bereits auf Wissenschaft und Forschung ein? Wie sollten Forschende damit umgehen? Gibt es eine Cancel Culture an deutschen Universitäten? Und wie steht es um die Wissenschaftsfreiheit weltweit?”

Wie frei sind Forschende an deutschen Hochschulen? Zum Thema Wissenschaftsfreiheit durfte ich im rbb einordnen: Was ist dran am Cancel Culture-Diskurs & wie sollten wir das Wissenschaftsjahr “Freiheit” am besten nutzen?

Wie gehen Forschende mit Anfeindungen um? Eine Campus & Karriere-Sendung im Deutschlandfunk zu Wissenschaftsfreiheit mit Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin, und mir. Es moderierte Britta Mersch.

Andrea Geier
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Written by Andrea Geier

Komplexitätsdienstleisterin & Professorin an der Universität Trier. Literatur & Literaturwissenschaft zwischen Kritik & Revue, Gender & Postcolonial Studies.

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