Protestkultur an Hochschulen als Gefahr oder in Gefahr?

Andrea Geier
3 min readMay 10, 2024

--

Die größte Gefahr für die akademische Debattenkultur sind aus meiner Sicht überzogene Zuschreibungen, wer wie derzeit die Wissenschaftsfreiheit gefährde. Dabei sollte es doch nicht schwer fallen zu sagen: Protestkultur ist ein hohes Gut, und selbstverständlich hat sie auch ihren Ort und Berechtigung an Hochschulen, denn diese sind Teil der Gesellschaft. Aber gerade weil es gilt, Protestkultur zu verteidigen, muss man auch sagen, dass gewaltverherrlichende Aktionen und Übergriffe ein Problem darstellen. Und damit sie strafrechtlich verfolgt werden können, muss die Polizei gerufen werden. Polizei auf dem Campus kann notwendig sein. Umgekehrt muss genauso klar sein, dass es nicht legitim ist, jeden Protest gegen das militärische Vorgehen in Gaza unter Generalverdacht zu stellen, Israel auslöschen zu wollen. Und es ist ein völliges Versagen einer Hochschulleitung, polizeilichen Einsatz nicht als ultima ratio anzusehen, als wirklich das allerletzte Mittel. Und man kann den Protestbrief dagegen mindestens ungeschickt finden und kritisieren, weil darin z.B. Protestslogans wie Intifada-Rufe nicht mal ansatzweise kritisch eingeordnet werden (wäre es wirklich möglich, genauso neutral für das Recht auf Protest einzutreten, wenn es sich um Proteste gehandelt hätte, auf der rechte Slogans gerufen worden wären?), aber eine öffentliche Diskreditierung der Hochschullehrenden u.a. auch durch die Bundesministerin für Bildung und Forschung, ist absolut unangemessen und ein verheerendes Signal. Das sollte sich von selbst verstehen, und dass das nicht der Fall ist, macht mich fassungslos.

Es müsste doch eigentlich Konsens sein, dass die derzeitige Lage komplex ist, und es wird auch immer wieder von verschiedensten Akteur*innen gesagt, dass das anzuerkennen sei. Aber warum informiert diese Einsicht dann so wenig Statements, die darauf zielen, öffentlichkeitswirksam auf Probleme aufmerksam zu machen?

Effekt von einseitigen statt auf “sowohl als auch”-Logik zielenden Statements ist 1 Polarisierung, die sich dann mit Forderungen nach einseitiger Solidarisierung verbindet. Das hat auch insofern 1 Berechtigung, als hier klare institutionelle Hierarchien im Spiel sind.

Trotzdem verstärkt genau das eine Dynamik, der wir alle entgegenwirken müssen. Und damit zum größeren Bild und Problemen, die mir im Kontext der Diskussion um Wissenschaftsfreiheit besonders am Herzen liegen. All das zeigt mal wieder: Die Frage nach dem ‘Politischen’ in academia ist die große Baustelle, die wir bearbeiten müssen (sry, sage ich seit 2020, aber ist weiterhin so). Denn das ist 1 breites Spektrum. Der einseitige “Ideologie”/’Wokeness’-Diskurs hat hier fatalerweise ‘ganze Arbeit geleistet’, sorgte nämlich kontraproduktiv für falsche Polarisierungen. Dass sich Personen, die in denselben wissenschaftlichen Feldern arbeiten — z.B. Gender & Postcolonial Studies — , über den Nahostkonflikt und die Kommunikation über ihn uneins sind, kann nur Leute überraschen, die gerne der Mär einer „woken Ideologie“ qua Feldzugehörigkeiten anhängen. Stattdessen sollten wir uns austauschen über das Verhältnis von Wissenschaftsfreiheit und Werteorientierung, Debattenkultur und Grenzziehungen zwischen legitimen und illegitimen Protestformen und Protestaktionen.

Dazu gehört dann auch: Alle, insbesondere für Wissenschaftspolitik zuständige Personen, müssen selbstverständlich jede Pauschalkritik an ganzen Fachrichtungen klar zurückweisen. Die innere Heterogenität von Forschungsfeldern wahrzunehmen, die Normalität nicht nur verschiedener Themen und methodischen Zugänge, sondern auch der Teilhabe an und Positionierungen in Debatten inklusive Selbstkritik ist wissenschaftlicher Mindeststandard. Was wir umgekehrt dazu also auch brauchen, ist, dass in diesen Feldern neben berechtigter, einhelliger Abwehr von falschen Behauptungen gerade auch Selbstkritik sichtbar ist.

Mich betrifft das in Bezug auf Gender Studies und postkoloniale Studien. Und ja, das wird auch gemacht, aber ich betone es, weil in extrem polarisierten Debatten die Gefahr einer Feld-Schließung besteht, die Stärken wie innere Heterogenität, aber vor allem Kritikfähigkeit unsichtbar macht.

--

--

Andrea Geier
Andrea Geier

Written by Andrea Geier

Komplexitätsdienstleisterin & Professorin an der Universität Trier. Literatur & Literaturwissenschaft zwischen Kritik & Revue, Gender & Postcolonial Studies.

No responses yet