Andrea Geier
7 min readOct 21, 2019

Digital Courage: 100 Jahre Frauenwahlrecht in Zeiten der Digitalisierung

(Keynote zur gleichnamigen Veranstaltung in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz, Berlin am 17. Oktober 2019)

Wenn man endlich bekommt, was einem zu Unrecht vorenthalten wurde, muss man nicht dankbar sein. Das sagte Marie Juchacz, als sie am 19. Februar 1919 als Abgeordnete in der Weimarer Nationalversammlung sprach. Eine bemerkenswerte Aussage, denn viel zu oft wurde und wird von Frauen Dankbarkeit gefordert für etwas, das für Männer selbstverständlich ist. Es ist ein guter, selbstbewusster Spirit, den wir uns aus der Geschichte für zukünftige Kämpfe abschauen können.

Nachdem das Jubiläumsjahr 100 Jahre Frauenwahlrecht nun zu Ende geht, dürfte Menschen bewusst sein, dass das Frauenwahlrecht ein Meilenstein für die Gleichberechtigung war. Ein Ziel eines solchen Jubiläums wäre es außerdem gewesen, dass mehr Menschen ein paar Namen von Vorkämpferinnen kennen, europaweit, in den USA oder auch nur in Deutschland. Ist das gelungen? Und wenn wir in der Geschichte ein wenig näher zu uns rücken und das Jubiläum als Anlass sehen, insgesamt mehr über den Weg zur Gleichberechtigung zu lernen: Wer kennt den Namen der Frau, die durchsetzte, dass Gleichberechtigung im Grundgesetz verankern wurde — weil die sogenannten „Väter“ des GG an diese Zielsetzung gar nicht gedacht hatten?

Heute, in diesem Raum, stünden die Chancen wahrscheinlich gut, dass wir ein paar Namen sammeln könnten. Zum Allgemeinwissen darf man die, auf deren Schultern wir stehen, allerdings nicht immer noch nicht zählen, und es macht den Eindruck, als fehle es unserer Zeit etwas an Dankbarkeit gegenüber — nur z.B. — Hedwig Dohm oder Elisabeth Selbert.

Jubiläen sind ein Anlass, Bilanz zu ziehen und Herausforderungen zu adressieren. Also: Wo also stehen wir?

Große Fortschritte gab es bei der rechtlichen Gleichstellung. Ein Aha-Erlebnis haben Studierende jedoch meistens nicht beim Frauenwahlrecht, sondern wenn sie erfahren, dass Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 Straftatbestand wurde. Ohnehin dürfte die wichtigste Lektion sein, dass aus der Beseitigung rechtlicher Hindernisse nicht automatisch gleiche Teilhabechancen folgen. Eine Bundeskanzlerin ist für viele ein gutes Symbol und mehr noch, dass sie sich, wenn auch äußerst spät, zu feministischen Zielen bekannt hat, aber das heißt nicht, dass zähe Strukturen und Denkmuster der Marginalisierung und des Ausschlusses von Frauen beseitigt wären — auch wenn Konservative bis Männerrechtler das gerne behaupten & fragen: ‚Was wollt ihr denn noch?’ In dieselbe gesellschaftspolitische Großwetterlage gehört, dass in zeitgenössischer Kapitalismuskritik der Unterschied von Haupt- und Nebenwiderspruch fröhliche Urstände feiert und auch Menschen, die sich selbst als Liberale oder Linke positionieren, Fragen sozialer Gerechtigkeit gegen Identitätspolitik ausspielen statt sie miteinander zu verbinden.

Wir leben in einer Zeit, in der es einen breiten rhetorischen Konsens darüber gibt, dass Gleichberechtigung eine wichtige politische Zielsetzung ist. Und das ist wunderbar. Aber gleichzeitig wird eben angesichts des Erreichten um so heftiger über den weiteren Weg gestritten. Das zeigt sich am deutlichsten im erstarkenden Rechtspopulismus: Zum rechten Weltbild gehört, dass Gleichberechtigung als ‚Gleichwertigkeit’ definiert wird. Daraus leiten Rechte unterschiedliche soziale Positionierungen von Männern und Frauen ab, und sie diskriminieren offen Menschen, die auf Grund von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität rechten Vorstellungen von ‚Normalität’ und ‚Deutschsein’ nicht entsprechen. Wie eng Rassismus und Antifeminismus in den Weltbildern der globalen Rechten verbunden sind, wird immer noch unterschätzt. Das lässt sich im Moment an der Berichterstattung über das Attentat in Halle beobachten: Antisemitismus und Rassismus werden als Probleme benannt, Antifeminismus und Misogynie, die in Täter-Statements vorhanden sind, bleiben häufig unerwähnt.

Das Attentat von Halle hat auch den Blick auf die Rolle digitaler Räume für Radikalisierungsprozesse gelenkt, und auch diese Debatte müssen wir informierter führen. Während der Innenminister mal eben erklärt, Gaming besser überwachen zu wollen, richten die Vertreter*innen des ESports ihre Energie alleine darauf, den tatsächlich absurden Pauschalvorwurf zu kritisieren. Bis heute habe ich kein Statement einer Esport-Verbandsvertretung gelesen, in dem steht, was selbstverständlich sein müsste: Dass Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit zentrale gesellschaftspolitische Problemfelder sind und alle selbstverständlich in ihren Verantwortungsbereichen einen Beitrag dazu leisten, solche Einstellungen und Ideologien zu adressieren und zu bekämpfen.

Von aktuellen Konflikten zu grundsätzlicheren Fragen: Haben Frauen das World Wide Web erobert? Nun, das Komplizierte ist, dass Chancen und Risiken eben miteinander zusammenhängen. Wer im digitalen Raum aktiv und sichtbar ist, hat Chancen, ihn mitzugestalten, macht sich aber eben auch angreifbar. Schaut man auf die Anfänge — und je nachdem, welches Datum man nimmt, ließe sich dieses Jahr auch 30 Jahre World Wide Web feiern — hatten sich mit dem Netz Hoffnungen auf neue Möglichkeiten für Information, mehr demokratische Partizipationsmöglichkeiten verbunden, Räume für Austausch und Solidarisierung. Einiges davon ist eingetreten, nur nicht die größte Hoffnung, dass Geschlecht automatisch eine weniger große Bedeutung haben werde. Überraschend daran ist eigentlich nur, wie viele das überraschend finden: Denn die peinlicherweise immer noch so genannten Neue Medien werden von Menschen gestaltet, die in der gegenwärtigen Welt leben und deren Wahrnehmungsmuster und Denkstrukturen die digitale Welt mitformen, das gilt fürs Programmieren wie für die tägliche Kommunikation. Deshalb sollte es uns nicht wundern, dass dabei geschlechtsspezifische Zuschreibungen nicht nur dethematisiert, sondern im Gegenteil sogar dramatisiert werden.

Die Entwicklungen im digitalen Raum sind nicht einsinnig: Viele junge Frauen inszenieren sich z.B. auf Insta besonders rollenkonservativ, aber es gibt eben zugleich mehr sichtbare Vielfalt, etwa wenn es um Body Positivity geht. Aktionen & Dynamiken von Protestbewegungen wie Fridays for Future aber auch des Feminismus wären ohne digitale Begleitung, Vernetzung, Sichtbarkeit und Reichweite so nicht denkbar. Und neben Aktivismus oder pragmatischem Networking freut mich besonders eine vielfältigere Wissenschaftskommunikation, an der sich gerade viele Frauen verschiedener Erfahrungsstufen beteiligen. Auf der anderen Seite gibt es eine Menge Hass: Unter Meinungsfreiheit verstehen im Netz viele ein Recht, sich rassistisch zu äußern und von Kritik verschont zu werden, aber genau dort findet auch der Kampf dagegen statt und es wird erklärt, warum Kritik keine Zensur ist. Und eindeutig haben soziale Medien marginalisierten Stimmen auch mehr Sichtbarkeit gegeben und Solidarisierung ermöglicht. Wer das, wie jüngst Harald Welzer, bestreitet, zeigt eigentlich nur, dass er in sozialen Medien nicht unterwegs ist.

Öffentliche Debatten sind eher einseitig abschreckend und hängen in der Klischeefalle fest: Unzählige Artikel widmen sich der angeblich großen Gereiztheit in den Sozialen Medien oder verminderter Aufmerksamkeitsspanne, statt differenziert einzelne Problemkomplexe anzusprechen.

Wir reden immer noch über die Frage, wie digital wollen wir leben statt:
Wie
wollen wir digital leben?

Die Vorstellung, dass man bestimmte Probleme beseitigt, indem man digitale Räume meidet, ist nicht nur keine kluge Strategie, sie verfällt auch der Idee der ‚Filterblase’ — als ob das nicht viel stärker auf die Gatekeeper alten Stils in ihren homogenen Redaktionen zuträfe.

Niemand muss auf bestimmten Plattformen aktiv sein. Aber es wäre umgekehrt naiv anzunehmen, dass Soziale Medien keinen Einfluss auf unsere Lebens- und auf unsere Arbeitsbeziehungen hätten, wenn wir entscheiden, sie persönlich zu meiden. Und so versuche ich Lehramtsstudierenden klar zu machen, dass sie an Bildung auch im digitalen Raum mitarbeiten sollen.

Wir brauchen eine andere Wahrnehmung: Probleme sozialer Medien werden immer noch viel zu oft so behandelt, als seien sie ausschließlich medien- oder je nach Fall plattformspezifisch. Aber Vergewaltigungsdrohungen und Stalking wurden nicht im Internet erfunden. Der wichtige Punkt ist zu sehen: Welche Formen von Gewalt im Netz sind neu, welche treten anders in Erscheinung und welche Auswirkungen haben sie im und jenseits des digitalen Raums auf die Partizipationsmöglichkeiten von Frauen?

In diesem Sinne sollten wir auch die Kampagnen gegen Hatespeech im Netz angehen. Das Gerichtsurteil zu den Hassreden gegen Renate Künast ist verheerend, aber es kann auch mobilisieren, für geschlechtsspezifische Gewalt sensibilisieren, die versucht, Frauen im sogenannten Real life wie im digitalen Raum mundtot zu machen und zu vertreiben. Wir brauchen eine breite kritische Debatte über sexistische und misogyne Frauenbilder oder übergriffiges Verhalten vom harmlosen, aber nervigen Mansplaining über dick picks in den Direct Messages, von revenge porn bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Amnesty International hat 2018 von #ToxicTwitter gesprochen: 23% der befragten Frauen aus acht Ländern gaben an, bereits Gewalt auf Social Media erlebt zu haben. Gegeninitiativen wie #NetzohneGewalt sind ein wichtiges Zeichen, und diese gefällt mir besonders, weil sie geschlechtsspezifische Probleme anspricht und mit ihrem Titel zu gleich in eine Zukunft weist, in der sich alle Menschen möglichst ohne Diskriminierung beteiligen können.

Geschlechtsspezifische Probleme identifizieren und damit die Kommunikation im Netz für alle besser machen. Das muss unsere Leitlinie sein.

Und: Wir müssen Digitalisierung, Demokratie und Diversität zusammendenken.

Wenn wir das tun, sollten wir uns auch selbstkritisch fragen, wie ein Event wie das heutige dazu beitragen kann. Ich habe mich bisher an die Linie gehalten, die die Veranstaltung vorgibt: Vom Frauenwahlrecht, also einer klassischen ‚Frauenfrage’ zum Thema Digitalisierung. Aber dahin führt kein gerader Weg, wenn sich alle Menschen angesprochen fühlen sollen. Und damit möchte abschließend vier allgemeine Herausforderungen benennen:

1. Gleichberechtigung muss bei allen Themen mitgedacht werden. Sie gehört auf die Hauptbühne und nicht in einen separaten Raum, in dem sich Marginalisierte miteinander verständigen. Selbstverständlich ist es auch wichtig, dass sich von Frauenfeindlichkeit und Rassismus Betroffene miteinander über ihre Erfahrungen austauschen — um Strukturen besser erkennen zu können, aber auch, um sich ihrer Unterschiede in ihren Voraussetzungen und Forderungen bewusst werden können. Das ist gerade für die Verschränkung von Antifeminismus und Rassismus wichtig. Aber Ungleichheitsverhältnisse zu adressieren und zu bekämpfen ist gerade nicht die Aufgabe einzelner Gruppen, also etwa ‚starker Frauen‘, die das anpacken müssten und dazu nur genügend Kraft brauchen. Es sind strukturelle Probleme und deshalb gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Hier darf man sich getrost an Gender Mainstreaming-Vorgaben orientieren, die jedes Projekt auf seine geschlechtsspezifischen Auswirkungen hin untersucht, und das ist nicht die Aufgabe von Frauen (oder gar der einzigen Frau) in einer Kommission…

2. Wir müssen dafür streiten, die sogenannte ‚Frauenfrage’ komplexer zu machen. ‚Frauen’ und ‚Männer’ sind keine distinkten Gruppenkategorien, und zwar sowohl, weil binäre Kategorien an sich viel zu eng gefasst sind, als auch, weil Menschen Aktualisierungen und Thematisierungen von Geschlechtszugehörigkeit in unterschiedlicher Weise erleben.

3. Wir sollten, wenn wir geschlechtsspezifische Fragen diskutieren, sie nicht von vornherein unter das Etikett ‚Frauenfrage’ stellen. Männer lernen sonst nie, dass sie auch sie ein Geschlecht haben und nicht nur einfach ‘der Mensch’ schlechthin sind, Menschen, die sich nicht binär zuordnen, werden von vornherein ausgeschlossen und Menschen mit Rassismuserfahrungen, die mit geschlechtsspezifischen Zuordnungen korrelieren können, sind dann nur irgendwie ‚mitgemeint’. Es geht aber nicht nur um die Adressierung von Betroffenen: Der Fokus ‚Frauenfragen’ wird den Themen nicht gerecht. Wir sollten deshalb nach Erfahrungen und Dynamiken von Phänomenen fragen: In welchen Kontexten und Situationen wird die Kategorie Geschlecht in welcher Weise für wen relevant oder für relevant erklärt?

4. Wenn wir, wie der Frauenrat es gerade formulierte, die digitale Transformation geschlechtergerecht steuern wollen, muss Gleichberechtigung Teil einer diversity-Strategie sein. Die Aushandlungen werden dadurch vielschichtiger und schwieriger, ja, aber es gilt: Gleichberechtigung ist nicht binär. Wir brauchen eine gelebte Kultur der Solidarität aller für alle, denen Gleichberechtigung verweigert wird und die im Alltag Diskriminierung erfahren. In diesem Sinne feiern wir seit einem Jahr 100 Jahre Frauenwahlrecht zusammen mit 70 Jahren Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte: als Auftrag für die Zukunft: Gleiche Rechte für ALLE Menschen. Ohne Ausnahme, in allen Räumen, in denen sie ihr Leben gestalten.

Andrea Geier
Andrea Geier

Written by Andrea Geier

Komplexitätsdienstleisterin & Professorin an der Universität Trier. Literatur & Literaturwissenschaft zwischen Kritik & Revue, Gender & Postcolonial Studies.

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